Träume

Sie ist schön.

Und sie kennt ihre Wirkung.

Ein Lächeln aus Indianeraugen verspricht einen Traum.

Doch ihre Liebe bewahrt sie im Herzen.

Als gäbe es kein Heute.

Kein Morgen.

*

In jenen abgelegenen Tangokneipen in San Telmo, dem Künstlerviertel von Buenos Aires, trifft man keine Touristen. Hier sind nur die Menschen aus der Nachbarschaft, die sich in die geheimnisvolle Melancholie des Tangos fallen lassen.

Ein trauriger Gedanke,

den man tanzt.

*

Schon ließ eine feuchte, kühle Ahnung des Morgens die Nacht erschauern, da betrat Ernesto die Bar.

Und erstarrte. Als er sie sah, wie sie, den Arm auf der Schulter des alten Klavierspielers, mit geschlossenen Augen sang: ".. el día que me quieras ...

Flammend rot leuchtete ihr geschlitztes Kleid im Dunkel.

Und da traf ihn die Erkenntnis, dass er sie gefunden hatte. Sie, die er sein ganzes bisheriges Leben lang gesucht hatte und von der er schon glaubte, es würde sie nur in seinen Träumen geben.

Als sie nun langsam, als erwache sie aus einem weit entfernten Land, die Augen öffnete, fing er ihren Blick und hielt ihn fest. Und es durchlief sie wie Erkennen, und auch sie wollte nicht loslassen. So bewegten sie sich Schritt für Schritt aufeinander zu, bis sie direkt voreinander standen. Dann fassten sie sich an den Händen und setzten sich, ohne die ineinander verschlungenen Blicke zu lösen, an einen jener kleinen, runden Tische, die mit altem Messing bezogenen sind, die Hände noch immer wie Anker verschränkt.

"Ich heiße Ernesto. Und ich habe Dich schon lange gesucht. Ich liebe Dich und will Dich nie mehr verlassen."

"Ich heiße Soledad. Ich habe schon lange auf Dich gewartet. Ich liebe Dich auch. Und ich will Dir allein gehören."

Noch lange saßen sie dort in jener Nacht. Die Menschen in der Bar umspülten sie wie Wellen, die keine Bedeutung für sie hatten. Nur die alte Dame, die nun am Klavier Tangos sang mit einer Stimme sanft und brüchig wie die Zeit, hatte Tränen in den Augen, wenn sie zu ihnen hinüber sah.

Als es draußen hell wurde, erhoben sie sich zögernd und gingen eng umschlungen hinaus. Er brachte sie in der Stille des Morgens zu Ihrer kleinen Wohnung in der Nähe des Hafens. Sie hielten sich im ersten Licht der aufgehenden Sonne noch einen Weile fest umarmt und verabredeten dann, sich übermorgen, am Montagabend, in der Bar Sur in San Telmo zu treffen. Dann wollten sie ihr gemeinsames Leben planen. Ein langer, zarter Kuss zum Abschied.

* Ernesto hatte es eilig. Sehr eilig. Denn keinesfalls wollte er sie warten lassen. Aber er hatte die Ringe gekauft und beim Friedensrichter einen Termin für die Trauung ansetzen lassen. Und die Busse waren überfüllt und hielten nicht an jeder Haltestelle. Buenos Aires schien zu kochen und zu brodeln. So rannte er von der Avenida aus zu Fuß los in Richtung San Telmo.

Und seine Gedanken waren fest bei ihr, die auf ihn wartete. Matt glänzte der nasse Asphalt im Dunkel. Und er sah den Lastwagen nicht, der ihn erfasste, als er eine Straße überquerte.

Und er spürte auch nichts mehr.

Für lange Zeit.

*

Soledad saß an einem jener kleinen , runden Tische, die mit altem Messing bezogen sind, und rührte mechanisch mit einem Blechlöffel in dem Kaffee, der schon lange kalt war. Abwesend aber unbeirrt war ihr Blick auf die Eingangstüre der Bar Sur gerichtet. Und sie wartete. Bis es draußen hell wurde. Dann erhob sie sich zögernd und ging hinaus, in der Stille des Morgens zu Ihrer kleinen Wohnung in der Nähe des Hafens. Und leise liefen Tränen über ihre Wangen.

Aber vielleicht hatte er ja nicht diesen, den kommenden Montag gemeint, sondern den in einer Woche. Vielleicht hatte sie nicht richtig zugehört. Er hatte ja sicherlich noch so viel zu erledigen. Bestimmt war es so. Und sie atmete auf und wartete geduldig. Bis zum nächsten Montag.

Und war wieder pünktlich in der Bar, am gleichen kleinen, runden Tisch, mit altem Messing bezogen, rührte in ihrem Kaffee und wartete. Bis es hell wurde.

Und wieder kam er nicht. Weder an jenem, noch an den vielen folgenden Montagabenden. Ein Leben war voll mit ihnen, und an den anderen Tagen war es leer in Soledad.

Und sie wurde älter aber nicht ungeduldig. Das Warten gab ihr einen Rhythmus und einen Sinn. Und auf ihre Weise war sie glücklich. Die Menschen um sie herum verloren mit den verrinnenden Jahren immer mehr an Realität, nichts konnte sie mehr wirklich berühren. Nur die Melancholie ihrer Sehnsucht zählte noch. Die Wellen der Zeit brandeten gegen andere Ufer.

* Als Ernesto die Augen aufschlug, versuchte er mit seiner ganzen Kraft, die wunderbaren Erinnerungen festzuhalten, die ihm zu entgleiten drohten.

Soledad in ihrem weißen Hochzeitskleid, strahlend, die schönste Braut der Welt, auf seinen Armen.

Soledad mit ihm Hand in Hand über den heißen Sand des Strandes von Mar Del Plata laufend.

Soledad in seinen Armen, noch atemlos, der Blick der olivfarbenen Augen lustvoll verschleiert, in unendliche Fernen verloren.

Soledad ihm ihr erstes Kind stolz entgegenhaltend, mit verdoppelter Liebe.

Soledad, die ihn zu Hause mit den Kindern erwartet, weil heute sein Geburtstag ist und alle mit ihm gemeinsam feiern wollen.

Und Ernesto bemühte sich verzweifelt die Farbe in diesen Bildern zu halten, denn sie verblassten immer mehr, verströmten, wurden dünner, entzogen sich viel zu schnell weit weg ins Unbekannte. Und leise liefen Tränen über seine Wangen, als er sie schließlich verloren hatte.

"Herr Doktor! Er hat die Augen aufgeschlagen. Und sehen Sie nur! Er weint!"

Ein weißer Kittel mit weißen Haaren und mitleidigem Blick gab sich alle erdenkliche Mühe, Ernesto so schonend wie möglich davon in Kenntnis zu setzen, dass er fünfzehn Jahre im Koma gelegen hätte und er sich in Madrid befände, wo man auf solche Fälle wie den seinen spezialisiert wäre. Er zeigte sich überrascht aber befriedigt, dass der Patient wieder zu sich gekommen wäre und versprach, alles in die Wege zu leiten, um ihm eine Rückkehr ins normale Leben zu erleichtern. Aber das würde natürlich einige Zeit in Anspruch nehmen. Und sicherlich hinge enorm viel von seiner, von Ernestos, tätiger Mithilfe ab. Denn selbstverständlich wären alle Muskeln geschwunden, und auch die Koordinationsfähigkeit hätte vermutlich ganz beträchtlich gelitten.

Ernesto vermochte den weißen, wohlwollenden Nebel, der einen süßlichen Duft verbreitete, nicht zu durchdringen. Schwarze Trauer hielt ihn umfasst. Und eine tiefe Melancholie machte ihn bewegungsunfähig.

Erst nach einigen Tagen begann er leise resigniert mit dem ihm dargebotenen Rehabilitationsprogramm. Und merkte kaum, wie die Zeit dabei weiter an ihm vorbeistrich, da sie kaum Veränderung bewirkte. Doch irgendwann eröffnete man ihm, dass er so weit wiederhergestellt wäre, dass er in sein Leben in Argentinien zurückkehren könnte.

Ein Notar erschien und klärte ihn darüber auf, dass er aufgrund einer großzügigen Zahlung der Versicherung des Unfallgegners von damals finanziell unabhängig wäre. Ernesto nahm diese Information mit gleichgültiger Miene hin.

* Carlos Gardels Stimme, bewegte ihn kaum, obwohl sie nach der Landung in Ezeiza, dem internationalen Flughafen von Buenos Aires, aus den Lautsprechern den berühmten Tango von der Wiederkehr nach zwanzig Jahren mit verwelkter Stirn und weißen Haaren sang.

Ernesto zog sich auf sein Hotelzimmer zurück und wartete.

Bis es Montag war.

Und am Abend nahm er sich eines der schwarzgelben Taxis und ließ sich in die Bar Sur fahren. Und setzte sich an einen der kleinen, runden Tische, die mit altem Messing bezogen sind.

Und er bestellte sich einen Kaffee.

Und sah sich um.

Er tat es nicht, weil er hoffte, sie zu sehen. Er tat es aus Prinzip. Denn einst hatte er versprochen es zu tun.

Und seine rechte Hand spielte mit den Ringen in seiner Jackentasche und seine linke Hand rührte mit einem Blechlöffel in dem Kaffee, der schon lange kalt war. Abwesend aber unbeirrt war sein Blick auf die Eingangstüre der Bar Sur gerichtet.

Und da trat sie ein. Und er erkannte sie sofort, denn die Nebel der Zeit hatten ihr nichts anhaben können. Etwas ungelenk stand er auf und ging ihr entgegen.

Soledads Blick traf den seinen, doch sie sah durch ihn hindurch, schien ihn nicht einmal wahrzunehmen, geschweige denn zu erkennen. Und sie ging weiter und setzte sich an einen der kleinen, runden Tische, die mit altem Messing bezogen sind.

Ernesto stand in der Mitte des Raumes, unfähig sich zu bewegen. Kalt fühlte es sich an, als sei alles in ihm gefroren.

Dann tat er sich Gewalt an und zwang seine Beine, zu ihr an den kleinen Tisch zu gehen. Dort blieb er stehen und sah sie stumm an. Sie blickte zu ihm auf und lächelte flüchtig und unpersönlich.

"Verzeihen Sie, aber ich bin verabredet. Immer hier, an diesem Tisch in der Bar Sur. Montagabends. Bitte entschuldigen Sie mich, aber mein Mann wird sicherlich gleich kommen."

Und abwesend aber unbeirrt war ihr Blick auf die Eingangstüre der Bar Sur gerichtet.

Ernesto hatte nichts als sein Schweigen.

Und er wandte sich ab und ging in ein Leben, das er nicht wollte.

*

Er besitzt keinen Terminkalender.

Und er plant nie etwas.

Trifft keine Verabredungen.

Verspricht nichts.

Er lebt jeden Tag,

als sei es der einzige,

den es je für ihn geben wird.