Im Wein liegt Wahrheit

Im Aschaffenburger Schloss befindet sich außer den Schlossweinstuben, einem Museum und einigen Trakten Verwaltung, im Nordostflügel auch noch die Schlosskellerei, in der seit 100 Jahren Verkauf, Weinlager und Fassbereich des Hofgutes Hörstein untergebracht ist. Dort werden Weine vom Hörsteiner Reuschberg ausgebaut und gelagert.

Und manchmal gibt es auch eine Weinprobe, vielleicht als Höhepunkt und Abschluss der drei geheimnisvollen Ascheberscher Stationen, geführt von Birgit Funk.

Das Publikum dieser Veranstaltungen ist gemischt, alteingesessene Aschaffenburger sitzen neben Besuchern, einfache Menschen neben Kulturbeflissenen.

Und manchmal, aber nur manchmal, ist auch einer dazwischen wie Moritz Motzkopf. Zum Glück nur manchmal, denn Menschen wie er sind schwer zu ertragen, selbst für die weltoffenen und toleranten Aschaffenburger.

Seine gesamte Präsenz hatte etwas Ameisenhaftes, Unruhiges, Geschäftiges. Mager war er, richtiggehend dünn, eigentlich schon an Auszehrung grenzend. Dabei klein und ständig in hektischer Bewegung. Die schmalen Mausaugen blickten flink und stechend umher, nichts schien ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen. Die Hände unaufhörlich umherhuschend, Gesten andeutend, die nie so richtig ausgeführt wurden. Eine flinke Zunge, unablässig die Lippen benetzend, als sei er im Begriffe, etwas zu sagen. Was auch viel zu häufig geschah. Mit schneidend scharfer, durchdringend lauter und hoher Stimme, die keine Unterbrechung duldete. Und die triefte vor Arroganz und Besserwisserei. Kurz gesagt: kein angenehmer Zeitgenosse.

Und an jenem Tag im Kellergewölbe des Hofgutes Hörstein unter dem Aschaffenburger Schloss war er dabei. Unglücklicherweise.

Der Kellermeister, Udo Karg, hatte selbst die Führung und Weinprobe übernommen, und so konnte man Interessantes erwarten. Die Gruppe bestand aus zwei guten Dutzend Leuten.

Zunächst versammelte man sich vor den silberfarbenen Stahltanks, in denen vor allem die einfachen Weine ausgebaut werden. Herr Karg zeigte und erklärte, solche Stahltanks seien einfach viel hygienischer und geschmacksneutraler und natürlich deutlich einfacher zu reinigen. Moritz Motzkopf lauschte mit schräg geneigtem Mausgesicht, Hände und Zungenspitze unruhig hin und her flitzend. Und schon brach es aus ihm heraus:

"Sie sollten aber auch so fair sein und erwähnen, dass mit diesen modernen Glitzermonstern besonders Ihnen als Winzer ein Gefallen getan wird. Sie sparen Kosten, aber wir müssen auf interessante Geschmacksnuancen verzichten. Die Spanier, wenn ich das erwähnen darf, arbeiten aus diesem Grunde wieder überwiegend mit Eichenholzfässern."

Herr Karg bedankte sich höflich für die wertvollen Zusatzinformationen, schickte einen flehenden Blick zur Kellerdecke und bat die Gruppe an einen Tisch, um einen Weißwein zu probieren.

"Meine Damen und Herren, hier haben wir einen sehr schön ausgebauten 2003er Bacchus Kabinett, natürlich von unserem Hörsteiner Reuschberg."

Flink schenkte er für jeden ein kleines Probierglas ein und reichte es den Besuchern.

"Zunächst hat dieser Weine eine sehr schöne Nase, sie werden einen zarten Duft nach Holunderblüten feststellen können."

"Da kann ich Ihnen nicht zustimmen!"

Moritz Motzkopfs spitze Nase tauchte noch einmal tief ins Glas, und einige der Anwesenden hofften wohl im Stillen, sie würde darin stecken bleiben. Doch sie erhob sich steil nach oben, als er zu dozieren begann:

"Dieser Wein scheint mir einen recht hohen Säuregehalt zu besitzen, untypisch für einen Bacchus und besonders für einen Kabinett. Für mich besitzt er eher einen ausgesprochenen Apfelduft wie ein Riesling. Aber wir wollen ja sicher erst noch probieren, bevor wir endgültig urteilen."

Und er erhob sein Glas, wobei er auffordernd in die Runde blickte.

Herr Karg blieb nichts anderes übrig, als sich erneut zu bedanken und beifällig zu nicken, denn probieren wollte man ja.

Moritz Motzkopf schlürfte demonstrativ und laut, bewegte den Wein im Mund hin und her, spuckte ihn schließlich mit leicht verzogenem Mausgesicht wieder ins Glas zurück, schnalzte laut Aufmerksamkeit heischend mit der Zunge und verkündete:

"Ganz wie ich bereits sagte: Apfelduft und zu säurehaltig. Nicht weich genug für einen Bacchus Kabinett – und vor allem nicht für einen 2003er."

Die Gruppe und auch Herr Karg nickten ergeben, an Widerspruch gegen dieses schneidend arrogante Stimme war nicht zu denken. Also genoss man im Stillen den schönen Wein, der wenig Säure hatte, durchaus weich genug war und im übrigen auch deutlich nach Holunderblüten duftete.

Herr Karg bat die Gruppe nun in einen anderen Teil des Kellers, dorthin, wo noch traditionelle Eichenholzfässer lagen, die man, wie er erzählte, nur für den Ausbau und die Lagerung der höherwertigen und älteren Weine benutzte. Etwa 20 Fässer, die jedes 2400 Liter fassten, lagen dort in doppelter Reihe zu beiden Seiten eines Ganges. Auf den breiten Fassriegeln, die die Fasstürchen verschlossen, standen Bocksbeutel mit brennenden Kerzen, die den gesamten Raum in ein romantisches aber auch leicht gespenstisches Licht tauchten.

Vor dem letzten Fass, das als einziges leer war und dessen Fasstürchen nicht eingesetzt war, hielt Herr Karg an und begann wieder zu erzählen. Dass diese Eichenholzfässer heutzutage eine Rarität seien, weil sie sehr teuer in der Herstellung und nicht unbegrenzt verwertbar seien. Auch die Reinigung bereite Schwierigkeiten, weil man dazu in das Fass hineinkriechen müsse.

"Für einen schlanken und durchtrainierten Menschen wie mich überhaupt kein Problem!" tönte Moritz Motzkopf, nahm eine Kerze, bückte sich und leuchtete damit in das Fass hinein.

Herr Karg nickte ergeben.

Dann zeigte er auf das Fass gegenüber und erklärte, dass man in diesem einen ganz besonderen Wein lagere, einen 1989er Gewürztraminer Auslese, den man demnächst zuerst in das nun leere Fass zur Filtrierung umfüllen und dann, nach einiger Ruhezeit, als absolute Rarität auf kleine Bocksbeutel aus weißem Glas mit 0,375 Litern Inhalt ziehen wolle.

"Den würde ich liebend gerne einmal probieren. Da steht ja ein Glas! Sie gestatten doch sicher."

Und Moritz Motzkopf ergriff, unverschämt wie er war, das Glas und wollte schon den kleinen Messinghahn am Fasstürchen aufdrehen, um sich etwas abzufüllen. Aber da hielt ihn Herr Karg sanft aber bestimmt zurück. Es täte ihm unendlich leid, aber eine Verkostung dieses Weines sei nicht vorgesehen und aus Gründen der Hygiene auch gar nicht möglich. Schließlich könnten nicht alle aus einem Glas trinken.

Moritz Motzkopf hätte es augenscheinlich durchaus befriedigt, wenn nur er alleine hätte kosten können, aber Herr Karg schüttelte nur einfach konsequent den Kopf und bat die Gruppe, ihm nun in den Gewölbekeller zur Weinprobe zu folgen.

Zunächst schien sich Moritz Motzkopf der Gruppe anschließen zu wollen, doch dann blieb er stehen und trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Seine Hände vollführten in der Luft unverständliche Gesten, sein Mund öffnete sich, schloss sich aber wieder, ohne dass ein Laut hervorgekommen wäre.

Und dann war er mit einer blitzschnellen, huschenden Bewegung in dem schmalen Spalt zwischen zwei Fässern verschwunden. Niemand bemerkte dies, und so ging die Gruppe weiter.

Auch im weiteren Verlauf der Veranstaltung vermisste ihn niemand, lediglich eine unbewusste Erleichterung über das Fehlen seiner penetranten Bemerkungen schwebte wie ein heimlicher Segen wohltuend über der Weinprobe.

Er hielt sich versteckt, bis er sicher sein konnte, dass man sein Zurückbleiben nicht bemerken würde, dann erst trat er zögernd auf den Gang hinaus. Flink kontrollierten seine misstrauischen Mausaugen seine Umgebung. Er war allein.

Ein gieriges Glitzern trat in seinen Blick, als er nun das Glas ergriff, denn Messinghahn öffnete und sich von der tief goldgelben Flüssigkeit ins Glas laufen ließ. Was für eine Farbe! Von der Lagerung im Holzfass vertieft. Und welch ein unglaubliches Aroma! Langsam und genussvoll versenkte er seine Nase in das Glas und inhalierte mit geschlossenen Augen.

Dann nahm er einen großen Schluck und schlürfte ihn genießerisch. Unglaublich! Göttlich! Einmalig! Genau der richtige Wein für ihn! Und da gab es doch tatsächlich sogenannte "Weinkenner", die nur trockene Weine mochten! Ab Spätlese aufwärts beginnt erst der wahre Weingenuss. Moritz Motzkopf nahm einen weiteren tiefen Schluck, der das Glas leerte. Hier wollte er bleiben und möglichst viel von diesem herrlichen Wein trinken, die Probe für die Proleten interessierte ihn nicht.

Und so schenkte er sich noch ein Glas voll, trank es gierig und hastig leer und füllte es erneut. Und noch eines und noch eines und noch eines.

In seinem Kopf begann es zu summen, und er schwankte etwas. Leise brabbelte er vor sich hin, ab und zu glücklich kichernd. Und er trank weiter.

Doch auf einmal schienen die Kerzen auf den Fasstürchen zu flackern, als habe sie ein Windhauch berührt, und eisig berührte etwas Moritz Motzkopfs Nacken. Er fuhr herum und starrte den Gang entlang, aber zunächst konnte er nichts erkennen. Sein Blick war vom vielen Gewürztraminer verschleiert. Doch dann sah er wie sich Nebelschleier am Boden sammelten, und sie ballten sich zusammen und erhoben sich, wobei das Gebilde auf ihn zu floss. Und es nahm weibliche Formen an, gehüllt in ein wallendes, weißes Gewand, und dann erkannte er mit einem erschrockenen Aufschrei die Gesichtszüge seiner verstorbenen Frau, dieser ekelhaften, fetten Kuh. Wutverzerrt und gehässig. Und ihre schneidende Stimme machte ihn mit einem Schlag wieder nüchtern.

"Da bist Du ja, Du Mistkerl! Ich bin gekommen um Dich zu holen, zu mir ins Reich der Schatten, denn dort habe ich viele Verbündete, und werde ich mich an Dir rächen für alles, was Du mir angetan hast! Für die vielen Versuche, mich zu vergiften und für den Föhn in meiner Badewanne. Im Feuer wirst Du dafür braten in alle Ewigkeit!"

Moritz Motzkopf stand zunächst wie erstarrt, dann wollte er weglaufen, aber das schreckliche Gespenst versperrte ihm den Weg mit ausgebreiteten Armen und einem hämischen Grinsen.

Und dann hörte er ein tiefes und bedrohliches Knurren, das lauter wurde und näher kam. Und hinter der weißen Gestalt trat mit gefletschten Zähnen ein großer, fast schwarzer Schäferhund hervor und kam langsam auf ihn zu.

"Das ist mein Freund Zerberus. Er wird Dich töten. Dein Blut wird spritzen bis zu diesen Fässern, wenn er Deine Kehle zerreißt, und dann gehörst Du mir und meiner Rache!"

Moritz Hände vollführten abwehrend beschwörende Gesten in der Luft, seine Zunge schoss hervor und benetzte die Lippen, er stammelte, aber es formten sich keine sinnvollen Worte. Betrunken wie er war, schwankte und torkelte er, schlug gegen ein Fass und stürzte schließlich zu Boden.

Und seine starr und ungläubig aufgerissenen Augen blickten direkt in eine Fassöffnung.

Das leere Fass!

Besinnungslos vor Angst warf er sich seitlich ganz auf den Boden und begann, den Kopf voraus, seinen Körper durch die enge öffnung zu zwängen. Es ging schwer, zumal ihm der Alkohol einen ziemlich großen Teil seiner Körperbeherrschung nahm, und an der Hüfte blieb er mit seinem Sakko hängen. Aber mit einem kräftigen Ruck befreite er sich, wobei ein Knopf absprang und über den Boden draußen rollte. Dann zog er endlich auch seine Beine nach. Er war im Fass. Der Hund knurrte mit gefletschten Zähnen durch das offene Fasstürchen, und kratzte mit seinen Pfoten auf den Fassdielen, war aber zu groß, um durch die öffnung zu passen. Nach einer Weile zog er auch den Kopf zurück und das Knurren verstummte. Da ertönte von draußen ein schneidend hämisches Lachen und er hörte den Geist seiner Frau sagen: "So ist es gut. Dann ruhe sanft! Das ist ein Grab, das Du verdienst!" Und damit war es still. Das Flackern der Kerzen wurde langsam schwächer und verlosch schließlich. Moritz Motzkopf fühlte sich unfähig zu irgendeiner Bewegung oder zu einem Gedanken. Zudem benebelte der Alkohol ihn inzwischen fast völlig, und so war es nicht verwunderlich, dass er ganz einfach friedlich in seinem Fass einschlief. * Früh am nächsten Morgen betrat der Kellermeister Udo Karg das Fasslager, eine Pumpe mit einigen Schläuchen und einen fahrbaren Filter hinter sich her ziehend. Er schloss die Pumpe an, zog den Holzspund aus dem Fass mit dem alten Gewürztraminer und versenkte einen Schlauch tief darin. Dann verband er ihn mit dem Filter, setzte einen weiteren Schlauch an und steckte ihn von oben in das offene Spundloch des leeren Fasses. Schließlich setzt er das Fasstürchen ein und verschloss es fest und sorgfältig mit dem großen Fassriegel. Nachdem er alles nochmals überprüft hatte, schaltete er die Pumpe ein, die mit lautem Geräusch zum Leben erwachte. Udo Karg drehte sich um und verließ den Fassraum. Ein Beobachten des Pumpvorganges war nicht nötig, die Pumpe würde sich automatisch abschalten, wenn das eine Fass leer war, und das Fassungsvermögen der Fässer mit 2400 Litern war bis auf eine Genauigkeit von etwa 10 Litern konstant. Moritz Motzkopfs Traum von diesem herrlichen 1989er Gewürztraminer Auslese war intensiv. Er schmeckte den Wein noch immer auf der Zunge, und nun roch er ihn sogar wieder. Aber mit einem Schlag war er hellwach. Es war dunkel um ihn und feucht, nein nass! Und es plätscherte. Und dieser betäubende Geruch nach Alkohol und Wein. Wie ein Hammerschlag traf ihn die Erkenntnis, wo er sich befand. Und sofort fing er an zu brüllen, so laut er konnte. "Hilfe! Lasst mich raus hier! Um Gottes Willen! Das könnt Ihr doch nicht tun! Ich will raus!" Draußen dröhnte die Pumpe, und wenn man ganz genau hingehört hätte, hätte man vielleicht durch das Dröhnen hindurch Moritz Motzkopfs Faustschläge gegen die Fasswand vernehmen können und gedämpfte Schreie. Aber da war niemand. Leider. Und so stieg der herrliche intensiv aromatische Traminer im Fass höher und höher, Moritz Motzkopfs Schreie wurden verzweifelter, und dann schluckte er von dem seltenen Wein, den er gar nicht wollte, so gerne er ihn gestern probiert hatte, nun wollte er ihn ganz und gar nicht trinken. Aber es half nichts. Sein Kopf, den er ganz in den Nacken gelegt hatte, um die letzte Luft der oberen Fasswölbung zu erhaschen, wurde überschwemmt und Wein drang in seinen Mund und in seine Lungen. Noch ein paar krampfhafte, spastische Zuckungen, dann war es vorbei. Eine Stunde später kam Herr Karg, um das Fass zu verschließen und sah die Bescherung. Ein erheblicher Teil der seltenen Gewürztraminer Auslese war übergelaufen, hatte nicht mehr in das neue Fass hineingepasst. ärgerlich beschloss Herr Karg, sich beim Fasshersteller über die mangelhafte Genauigkeit bei der Produktion zu beschweren, schließlich war nur eine Toleranz von 10 Litern vorgesehen. Achselzuckend umwickelte er den Holzspund mit einem sauberen Lappen und setzt ihn ein. Als er den Raum verlassen wollte, um einen der Arbeiter zu beauftragen, den ausgelaufenen Wein aufzuwischen, knirschte es unter seinem Schuh. Er bückte sich und fand einen zerbrochenen Jackenknopf. Den musste wohl gestern jemand bei der Führung verloren haben. Und nun war er leider kaputt. Folglich würde ihn sein Besitzer auch nicht mehr brauchen. Und so warf Udo Karg den Jackenknopf achtlos in einen Mülleimer. Es schepperte seltsam blechern, als würde jemand hämisch lachen.