Pedro Torres

Szenen eines Lebens in Patagonien
Exposé

4. Szene - Die Stiftung

"Volver" So beginnt der Refrain des wohl berühmtesten argentinischen Tangos von Carlos Gardel aus den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts.
Der Text des Liedes handelt davon, dass jeder, der in Buenos Aires geboren wurde oder es gut genug kennen gelernt hat, irgendwann hierher zurückkehrt. Mit verwelkter Stirn und silbernen Haaren.
Nach Argentinien, nach Buenos Aires, in meinem Fall nach Patagonien.
Und die Nebel der Zeit haben vieles verändert.
So heißt es in dem Tangotext.
Ein knappes Jahr nach unserem letzten Besuch bei Pedro am Lago Cholila waren der Junge und ich nach Deutschland zurückgekehrt. Der Abschied von Buenos Aires und von unseren Freunden und Bekannten dort war sowohl turbulent als auch schmerzhaft gewesen, und manchmal hatte mich im Angesicht des Abschiedes auch eine tiefe Melancholie befallen.
Aber andererseits lockte ja auch zu Hause in Deutschland ein neuer Anfang.
Der inzwischen, nach einigen weiteren Jahren, wieder zum Alltag geworden ist, teils geliebt, teils nur erduldet. Wie das eben so ist.
Doch nun bin ich zurückgekehrt.
Volver.
Und die Melodie dieses alten Tangos hat sich in meinem Inneren festgesetzt und wiederholt sich ohrwurmartig, als ich in Ezeiza, dem internationalen Flughafen von Buenos Aires lande.
Und Nostalgie wärmt mich.
Ich reise alleine. Denn der Junge ist inzwischen erwachsen geworden und führt nun mit seiner Freundin sein eigenes Leben. Eine Frau erwartet mich. Groß, schlank und attraktiv. Nicht nur deshalb, weil sie für ein paar Jahre hier in Argentinien lebt. Und weil sie einen großen Jeep hat. In dem ich mit ihr in den Süden fahren werde.
Zu Pedro.
An den Lago Cholila.
In Patagonien.
Zunächst ist es allerdings nicht ganz so einfach, aus der großen Stadt hinaus zu kommen, denn wegen der extrem schwierigen politischen und wirtschaftlichen Situation gibt es einige kleinere Aufstände. Und dabei werden von aufgebrachten Volksmengen Straßen und zwar vor allem die großen Ausfallstraßen blockiert.
Wir suchen uns also wenig befahrene Nebenstraßen, was uns mit entsprechendem Kartenmaterial auch ganz gut gelingt und als wir schließlich zweihundert Kilometer weit im Süden sind, können wir aufatmen.
Und die Fahrt geht nun zügig weiter. Wir fahren und schlafen im Wechsel, so dass wir schon bald die Pampa um Buenos Aires verlassen haben, Rio Negro und Chubut und auf dem Weg die Strauchwüste durchqueren und in die Landstriche kommen, die schon zu Patagonien gehören.
Vorbei an den großen Seen um Bariloche, vorbei an El Bolson, auf der Ruta Cuarenta nähern wir uns dem Lago Cholila. Ich habe der Frau schon viel von der Landschaft und den Menschen erzählt, und sie freut sich darauf, nun alles in Natur zu erleben.
Aber eine kleine Besonderheit, über die ich in den vergangenen Jahren gestolpert bin, habe ich, sozusagen als Zuckerstückchen, noch aufgehoben.
Denn zu meinem geliebten Lago Cholila habe ich eine verblüffende Geschichte gefunden.

Bruce, Butch und Sundance

Auf einer Anhöhe steht ein kleines Kiefernwäldchen, das uns ein schattiges Plätzchen bietet für eine Rast. Wir halten an, holen die Gasflasche und die Kanne heraus und machen uns einen Espresso. Zwei Blechtassen, außen rot und innen weiß. Ich habe sie ihr schon beim Umzug mitgegeben. Denn sie sind von hier. Haben den Jungen und mich auf allen Fahrten begleitet.
Etwas Ruhe und Stille tut gut und besänftigt. Dringend notwendig bei den schlechten Straßen hier. Zumindest von Zeit zu Zeit.
Weit kann der Blick über die sanften Hügelketten vor uns schweifen, die in Stufen abfallen, dann in eine fast vegetationslose Ebene übergehen und schließlich wieder ansteigen, in immer zarter und distanzierter werdenden Blautönen. Dahinter, in weiter Ferne die Kette der Anden die sich farblich schon fast mit dem hellblauen Himmel deckt. Eine kleine Weile sitzen wir, schweigend in den herrlichen Anblick vertieft.
Sie fragt, wo etwa der Lago Cholila liege, und ich deute in die Ferne, etwa 50 Kilometer voraus, auf die Andenkette zu. Ein wenig nach rechts von unserer Fahrtrichtung abweichend. Von hier aus ist er nicht zu erkennen, auch die Ortschaft nicht. "Lass uns eine kleine Weile hier sitzen bleiben. Ich muss Dir noch etwas erzählen, von dem ich Dir bisher nichts gesagt habe.
Vor etwa drei Jahren habe ich beim Schmökern in meiner Buchhandlung eine Erzählung gefunden, die mich interessiert hat und die ich deshalb mitgenommen habe. Von Bruce Chatwin. Der Titel war "In Patagonien". Schon mal gehört?" Sie kennt Chatwin, hat von ihm den Reiseroman über Australien gelesen, "Traumpfade", der ihr gut gefallen hat, weil sich erlebte Wirklichkeit und Fiktion sehr angenehm vermischen und damit eine ganz eigenartige Atmosphäre schaffen. "Nun, er hat auch Patagonien bereist und in seiner Erzählung berichtet er unter anderem auch von der Gegend hier. Und zwar hat er über die Ortschaft Cholila etwas Faszinierendes herausgefunden.
Die beiden berühmten Verbrecher, Butch Cassidy und Sundance Kid, die Ende des 19. Jahrhunderts in Nordamerika Eisenbahnen überfallen haben und schließlich zusammen mit der von beiden geliebten Lehrerin vor den Detektiven der Pinkerton Agentur nach Südamerika fliehen mussten, haben sich eine ganze Weile hier in der Gegend versteckt gehalten." Die Frau ist überrascht und interessiert, denn sie hat den spannenden und lustigen Western über diese Legende gesehen, der mit dem tragischen Tod der beiden Männer endet, als sie in Bolivien von einem ganzen Armeekorps aufgebracht und erschossen werden.
"Ja, und Chatwin hat Beweise dafür gefunden, dass sie sich häufig in der Ortschaft Cholila haben sehen lassen. Allerdings hat er nicht herausgefunden, wo sie sich und ihre Pferde, die sie immer wieder gestohlen haben, für eine längere Zeit versteckt gehalten haben.
Und ich denke, ich weiß es.
Pedros Hütte am Ende des Sees.
Es war ihre.
Nach all dem, was mir Pedros Vater und der Indianer über die Hütte und ihre Bewohner erzählt haben, gibt es da gar keinen Zweifel.
Die Gringos, die um sich geschossen haben, so dass die Indianer den Ort gemieden haben. Die Gegenstände und Zaunreste, die Pedros Vater gefunden hat. Es ist für mich völlig eindeutig.
Diese "Melange a Trois" hat sich am Lago Cholila versteckt, in der Blockhütte, die nun Pedro gehört und bei der wir schon ein paar Mal gegrillt und in der wir einmal geschlafen haben.
Was meinst Du dazu?"
Die Frau nickt vor sich hin und stimmt mir zu.
"Na, dann gibt es einen Grund mehr, mich auf Pedro und seinen See zu freuen."
Nach einem letzten Blick in die Weite packen wir unsere Sachen zusammen, füllen noch einen Plastiksack mit Pinienzapfen, die wir unter den Bäumen finden, für unser Lagerfeuer heute Abend und fahren weiter.
Die Straße ist schlecht, voller Schlaglöcher und ungeheuer staubig, so dass wir eine lange, gelbe Fahne hinter uns herziehen, welche die Sicht nach hinten völlig versperrt. Zum Glück sind hier kaum andere Fahrzeuge unterwegs, höchstens eines pro Tag.
Dann allerdings gilt es, mit der Hand von innen gegen die Scheibe zu drücken, damit sie bei einem eventuellen Steinschlag nicht so leicht zersplittert.
Schließlich gelangen wir an die Stelle, an der die Zufahrt zu Pedros See abgehen müsste, aber das Gatter ist mit einer eisernen Kette verschlossen, das schön geschnitzte Schild, das auf den Campingplatz hinweist, ist verschwunden, und stattdessen finden wir nur einen Hinweis, dass hier Privatgelände beginnt, das zu einer Stiftung zum Schutze der Natur gehört.
Der Zutritt sei verboten.
Für Unbefugte.
Zweifelnd stehe ich vor dem Schild und weiß nicht so recht, was ich tun soll, denn solche Hinweise auf Privatbesitz werden hier im allgemeinen sehr ernst genommen, und man muss im Falle der Nichtbeachtung damit rechnen, wie ein krimineller Eindringling behandelt zu werden.
Aber das wird Pedro doch nicht tun!
Oder hat er vielleicht das ganze Gebiet und den See verkaufen müssen? Aus Gründen, die ich mir nicht vorstellen kann? Und nun gehört das alles irgendeinem reichen Viehzüchter, der ständig in Buenos Aires lebt und nur einmal im Jahr hierher kommt. Eine schreckliche Vorstellung!
Und was mag aus dem Indianer und seinem Stamm geworden sein? Man wird sie doch nicht aus der Gegend vertrieben haben! Oder vielleicht verstecken sie sich in den Bergen?
Es ist so vieles möglich, und ich werde wohl keine Ruhe finden, bis ich herausgefunden habe, was hier geschehen ist. Also bin ich fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Und ich steige aus, um nachzusehen, ob ich das Gatter ohne größere Gewaltanwendung öffnen kann.

Traurige Nachrichten

Da sehe ich von vorne, von der Ortschaft Cholila aus, einen Wagen auf uns zukommen. Also warte ich, um ihn anzuhalten und die Leute zu fragen, was mit Pedro und seinem See geschehen ist.
Als das Auto sich nähert, erkenne ich, dass es sich um einen Polizeiwagen handelt, eine sehr seltene Erscheinung in dieser verlassenen Gegend. Aber in diesem Falle natürlich höchst willkommen, denn so werde ich mit einiger Sicherheit eine zutreffende und wohl auch aktuelle Auskunft erhalten.
Ich stelle mich mitten auf die Straße und winke mit beiden Armen. Das Polizeiauto blendet kurz auf, um mir zu zeigen, dass man mich gesehen hat. Dann halten sie am Straßenrand an und steigen aus.
"Was gibt es?"
"Ich möchte zu Pedro Torres, an den Lago Cholila. Aber die Zufahrt ist untersagt. Wieso?" "Der See und die Verbindung dorthin sind seit einiger Zeit für die öffentlichkeit gesperrt. Das gesamte Gebiet ist privates Naturschutzgebiet, zu dem niemand Zutritt hat.
Und Pedro Torres können Sie nicht treffen.
Er ist vor einem Jahr gestorben."
Ich kann nur stammeln, bringe kein vernünftiges Wort heraus, und Tränen steigen mir in die Augen.
Die Polizisten sehen mich seltsam an, wissen offensichtlich zunächst nicht, was sie von mir halten sollen. Langsam drehe ich mich um, mit hängenden Schultern, will wieder in den Jeep steigen.
Einfach nur davonfahren.
Weiß nicht wohin.
Die staubige Straße verschwimmt vor meinen Augen. Da tritt der ältere von den beiden auf mich zu, legt mir die Hand auf die Schulter und sagt:
"Augenblick, bitte. Sind Sie nicht der Deutsche, der mit Pedro befreundet war? Der mit dem weißen Volkswagenbus mit den blauen Wolken? Ihr Sohn war doch auch immer dabei, oder?"
Ich nicke still.
"Wenn das so ist, dann müssen Sie selbstverständlich an den See fahren. Man erwartet sie schon lange. Wir helfen Ihnen."