1 Nora

Er zeichnete mit der Spitze der schwarzen Klinge zwei feine Linien auf ihren Bauch, eine beginnend zwischen ihren weißen Brüsten bis hinunter zu den roten Locken ihrer Scham, die andere nach beiden Seiten des Nabels bis hin zum Rücken.
Rote Spuren auf noch unberührter Haut.
Ihre Atemzüge waren tief und gleichmäßig wie die eines Kindes. Traumverloren.
Er schob die schwarze, grünlich schillernde Maske aus Federn, die sein Gesicht verborgen hatte, etwas nach oben und küsste die Frau mit großer Zärtlichkeit auf die Lippen, auf die Augenlider, auf die Stirn, bevor er schließlich das silberne Heft des Messers mit beiden Händen packte, es ansetzte und tief in ihr Fleisch schnitt.
So opferten die Azteken einst Jungfrauen.
Um die Götter gnädig zu stimmen.
Lena spürte nichts. Ihr Bewusstsein war schon vorausgeeilt. In die andere Welt.
Aron nahm die schwarze Rose aus der Innentasche seiner Lederjacke und legte sie auf ihren Körper. Danach betrachtete er sein Werk ein letztes Mal. Er fühlte sich leicht, als sei eine Last von ihm abgefallen. Aber zur gleichen Zeit war das Gefühl für seinen eigenen Körper und für sich selbst irreal und distanziert, so als hätte nicht er, sondern ein anderer an seiner Stelle die Tat ausgeführt. Leise und mit Bedacht öffnete er die Türe zum Flur und schlich hinaus.
Nora schraubte die Kappe auf ihren Füller, legte ihn in die schwarze Steinschale vor sich auf dem Schreibtisch und klappte das Heft zu. Dann seufzte sie, stand auf und ging ins Bad.
Sah in den Spiegel.
Sie hasste ihren Anblick am Morgen, eine Fremde, die sie anschaute. Sie sollte wirklich weniger trinken. Spätestens vier Stunden nach dem Einschlafen war sie jedes Mal wieder wach. Da half auch der tiefe, fast schon bewusstlose Schlaf direkt nach dem Zubettgehen nichts. Vier Stunden. Höchstens.
„Das kommt vom Alkohol“, hatte ihr Hausarzt gesagt, als sie ihn wieder einmal um ein Medikament zum Durchschlafen gebeten hatte. „Erst betäubt er, dann hält er wach. So ist das nun mal in Ihrem Alter, Frau Borchert. Wenn man mehr trinkt, als einem guttut.“ Unverschämter Kerl! „In Ihrem Alter …“
Aber eigentlich hatte er ja recht. Sie wusste es selbst nur allzu gut. Bald würde sie vierzig sein. Früher konnte sie nach einer Flasche Rotwein durchschlafen wie ein Murmeltier, bis der helle Tag sie weckte. Keinen Wecker gehört, oft verschlafen. Aber heutzutage? Zwischen drei und vier Uhr war sie wach. Noch lange bevor die Sonne aufging. Und konnte nicht mehr einschlafen, nur noch dösen. So eine Art Halbschlaf. Und dann kamen sie. Die Halbschlafträume. Bedrohlich und angsterzeugend. Weil sie so realistisch waren. Und weil sie nichts dagegen tun konnte.
Außer aufstehen, Bademantel überziehen und sich an ihren Lieblingsplatz setzen, an ihren alten Schreibtisch. Von ihrer Großmutter. Nussbaumfurnier, aber sehr massiv. Vor dem großen Fenster mit Blick auf das Schloss. Und dann schrieb sie. In der absoluten Stille des noch viel zu frühen Morgens. Je blutiger und brutaler sie schrieb, desto besser fühlte sie sich. Und sie musste sich kaum anstrengen. Denn sie stiegen auf aus der Nacht, die Ideen und Figuren. Und sie handelten wie von selbst, übernahmen die Verantwortung und die Entscheidungen. Manchmal meinte sie, sie sei nur eine Protokollantin, eine Chronistin, die sah und aufschrieb. Sie erfand nicht, sie beobachtete.
Besonders stark war dies, wenn die Nacht allmählich einen grauen Schleier bekam, dann bleifarben wurde und rosa Töne annahm. Und wenn schließlich gar hinter ihr die Sonne aufging und das Aschaffenburger Schloss in feurigen Rottönen aufleuchtete, so schien es manchmal zu brennen. Sie meinte Flammen zu sehen, die wie ein Scheiterhaufen hoch aufloderten. Und aus diesen Flammen formten sich Gestalten, Ideen, Szenen. Das Gesicht der rothaarigen Lena, zu einem gehässigen Grinsen verzerrt. Und später ihr aufgeschlitzter Leib, aus dem rote Wellen pulsierend aufstiegen.
Schönheit.
Makellos.
ästhetisch.
Oft hatte sie dann das Gefühl, dass da etwas in ihr war, das schreiben wollte. Nicht sie war es, die steuerte, dieses Etwas, diese Wesenheit war es, die sich ausdrückte, die mitteilte.
Und sie ließ ihr keine Wahl. Sie zwang sie.
Gnadenlos.
Unbarmherzig.
Und oft musste sie dann so schnell schreiben, dass ihre Hand schmerzte. In ihrem Kopf formten sich die Sätze, immer zwei bis drei mehr als sie gerade schrieb, und sie geriet in Hektik und Angst, wenn sie nicht nachzukommen drohte.
Am Computer schreiben ging nicht. Da wäre sie schneller gewesen. Aber er tötete. Die Stimmen, die Figuren, die Sätze. Wenn sie ihn auch nur einschaltete, dann schwiegen sie schon, und sie saß und wartete. Sah zu, wie der Cursor blinkte. Aufgeregt und leblos zugleich.
Sie brauchte ihren alten Schulfüller. Blau. Pelikan. Und die Schreibhefte. Einen ganzen Stapel davon hatte sie noch aus ihrer Schulzeit. Die Blätter waren schon ziemlich vergilbt, das Königsblau der Umschläge ausgebleicht, fast grau. Damit ging es. Da wurden sie lebendig. Die Stimmen, die Bilder, die Gestalten.
Sie musste den Wecker stellen und ihn vor sich auf dem Schreibtisch haben, sonst vergaß sie die Zeit. Er erinnerte sie daran, dass ihr Tag in der Wirklichkeit begann. Oft musste sie sich gewaltsam losreißen, denn die Aussichten auf das, was sie erwartete, waren eher trübe.
Sie hasste ihn, diesen Spiegel im Bad. Der ihr jeden Morgen zeigte, dass sie wieder älter geworden war. Besonders dann, wenn sie am Abend vorher etwas getrunken hatte. Dann war ihr Gesicht aufgedunsen. Die Augen waren nur noch schmale Schlitze. Und die Haut! Schlaff, konturlos.
Bildete Falten. Besonders um den Mund herum. Die Lippen zu einem Kuss gespitzt, das wirkte sicherlich abstoßend. Ein Strahlenkranz von Falten. Wer konnte das bei hellem Tageslicht noch attraktiv finden!
Silvio sicher nicht. Kein Wunder, dass er es vermied, sie zu küssen, wann immer er konnte. Gar nicht zu reden vom verträumt erotischen Spielen der Zungen. Das war schon lange vorbei.
Ausziehen, rein, raus, runter.
Danke für die Benutzungsgenehmigung.
Nein, morgen kann er nicht. Zu viel zu tun. übermorgen? Kann er noch nicht sagen. Nächste Woche vielleicht. Da müsste dann der Samenbehälter ohnehin entleert werden. Handarbeit wäre wieder mal nicht schlecht. Oder eventuell Mundbedienung?
Dann ging er duschen, nicht ohne vorher den Toilettenrand vollgepinkelt zu haben, und verschwand in der Nacht. Und ließ sie alleine. Mit ihren Zweifeln, ihrer Unzufriedenheit, ihrem Ekel, vor allem vor sich selbst. Es half nichts, dass er aussah wie David von Michelangelo. Er gehörte ihr nicht. Sie diente nur manchmal.
Einmal pro Woche etwa.
Zur Befriedigung.
Und damit sollte sie sich bescheiden. Denn wenn sie mehr forderte, gab es ärger, und es bestand stets die Gefahr, ihn zu verlieren.
Viel hielt ihn ja nicht. Obwohl ihre Brüste noch straff waren, die Spitzen nach oben zeigten, wenn sie erregt war. Und sie wusste, wie er es genoss, dass sie so eng war und es verstand, ihn mit ihren Muskeln zu halten und zu drücken, da schloss er die Augen, überließ ihr die Führung und stöhnte wohlig.
So wie damals. Bei ihrem ersten Mal. In ihrem Gedächtnis eingebrannt wie ein Film.
überdeutlich.
Unauslöschlich.
Sie wollte ihn. Unbedingt.
Und hatte deshalb ihre Kleidung gezielt gewählt. Den weiten Tellerrock, die sanft fallende Bluse, darunter kein BH, kein Slip. Eigentlich war sie nackt, und sie fühlte sich auch so.
Auf der Gartenparty ging es hoch her, es wurde getrunken und wild zu alten Rockrhythmen getanzt. Später dann langsamer. Klammerblues. Und als sie ihn erst einmal in ihren Armen hatte, ließ sie ihn auch nicht mehr los. Drückte sich an ihn, so dass er ihre Brustspitzen spürte, presste ihren Leib an ihn. Seinen erstaunten Blick beantwortete sie mit halb geschlossenen Augen. Leckte sich zart über die Lippen. Und dann war es nicht schwer, ihn zu der Hollywood-Schaukel im hinteren Teil des Gartens zu lotsen. Wie er küssen konnte! Spielerisch, neckend, besitzergreifend. Und dabei machte sie seine Hand auf ihrer Brust beinahe besinnungslos vor Begierde, ihn hier und jetzt in sich zu spüren.
(...)

2 David

Disteln, Staub und Schotter.
Blonde Locken im Halbkreis.
Kind und Frau zugleich.
Augen,
blitzend vor Wut.
Tränen,
geboren aus Angst und Schmerz.
Fassungsloser Schrecken.
Abscheu und Scham.

„Nun mach schon, du feiges Schwein! Wenn du’s ihr nicht richtig besorgst, schneiden wir dir den Pimmel ab! Schau, das Messer ist schön scharf. Wird fast überhaupt nicht weh tun. Nur ein bisschen spritzen wird’s vielleicht. Roter Saft!“
Brüllendes, schadenfrohes Gelächter.
Und es hallt wider in seinem Kopf, wieder und wieder, lauter und lauter. Und das krampfhafte Zucken seiner Hüften wird schneller. Weg will er, nur weg. Aber ein Teil von ihm will auch hin zu ihr.
Ein heftiger, brennender Schmerz auf seinem bloßen Hintern.
Und in hilflosem Entsetzen ergießt sich sein Urin über ihren Leib.

* Ein durchdringend schrilles Läuten, scheppernd, sich mit nervtötender Gewalt ins Ohr bohrend, unnachgiebig, fordernd. Langsam, wie durch zähe Watte, kämpfte sich David Liebhardt an die Oberfläche des Bewusstseins und schlug zögernd die Augen auf.
Wieder war es geschehen.
Wieder hatte er es nicht verhindern können.
Gut, dass es niemanden gab, vor dem er sich hätte schämen müssen.
Fahles, frühes Tageslicht fiel durch die Gardinen des breiten Schlafzimmerfensters, Regen trommelte gegen die Scheiben, lief wie ein feiner Wasserfall herab. Er tastete nach dem Wecker auf dem Nachttisch und schaltete ihn ab, zog seine durchnässte Schlafanzughose aus und warf sie aus dem Bett.
Dann blinzelte er zur Decke hoch. Er musste nicht hetzen und gleich aus dem Bett springen, es war noch genug Zeit. David ließ schon seit seiner Kindheit den Wecker stets eine halbe Stunde früher läuten, als dies notwendig gewesen wäre.
Damit er Zeit hatte.
Für seine übungen.
Zunächst faltete er die Hände, die Finger fest ineinander verschränkt, auf seiner Brust und schloss einige Zeit die Augen. Es schien, als wolle er beten. Doch dann schlug er die Augen wieder auf und drückte die Hände ganz durch, weg von seiner Brust, zur Decke empor, dabei langsam ausatmend. Die Grundgelenke knackten mit lauten, scharfen Tönen wie eine schnelle Gewehrsalve. Dann ergriff er zunächst den Zeigefinger der linken Hand und zog daran, beharrlich die Stärke steigernd, bis es erneut leise knackte, dieses Mal sanfter. Genauso verfuhr er mit Mittel-, Ring- und kleinem Finger und anschließend mit der rechten Hand. Zum Schluss drückte er die Daumen einzeln zur Handfläche nach innen und unten, bis es dumpf knackte. Zufrieden hielt er dann seine beiden Hände hoch, spreizte die Finger und atmete befreit durch. Seine tägliche übung vor dem Aufstehen war damit erledigt.
Er schwang die Beine aus dem Bett, beugte sich nach vorne und betrachtete seine Füße. Knochig, mit dichten schwarzen Haaren auf den Zehen. Er ließ sie in dicken, braunen Filzpantoffeln verschwinden und erhob sich.
Bemühte sich, den Linien auf dem Bettvorleger genau zu folgen. An der Tür blickte er auf zu einem Fotoportrait einer gepflegten, älteren Dame in einem breiten Goldrahmen und nickte grüßend.
„Guten Morgen, Mutter.“
(...)