Blindes Vertrauen

Camomilla.
Sie besteht darauf, dass ich sie so nenne, sobald das Alíscafo hier auf Capri anlegt. Hier ist sie Camomilla. So leicht, so frei und ungebunden. So italienisch. So attraktiv und verführerisch. So offen für alle überraschungen.
Ich habe mir einen einfachen Schreibtisch und einen Stuhl auf die Terrasse unseres Hotelzimmers stellen lassen. Und einen Sonnenschirm. So kann ich in Ruhe schreiben und sie dabei im Auge behalten.
Wenn sie sich räkelt.
Auf ihrer Sonnenliege unten am Pool.
Kaum bekleidet.
Es schmerzt, wenn ich zusehen muss, wie sie ihre Reize anderen anbietet. Für mich sind sie nicht mehr bestimmt.
Schon seit langer Zeit.
Ihre zarte Haut, seidig und weich. Und wie sie schnurren konnte und sich in meine Hände schmiegte, wenn ich sie streichelte. Und diese Küsse! Immer und zu jeder Zeit konnte sie mich damit erregen. Und ihre kleinen, spitzen Lustschreie, wenn sie zum Höhepunkt kam. Das brachte mich fast um den Verstand.
Vor langer Zeit.
Heute tauge ich nur noch als neutraler Begleiter. Etwas Herzeigbares und Angenehmes eben.
Und ich soll sie Camomilla nennen.
Auffälliges Schütteln ihrer rotbraunen Mähne? Ach, ja. Der dunkle, sportliche Südländer auf der anderen Seite des Pools. Entgegenkommendes Lächeln. Erwidert. Intensiver Blickkontakt. Was sollen diese Fingerzeichen? Das sind Zahlen. Auch sie hat das verstanden. Seine Telefonnummer. Er hält sein Handy hoch, wiederholt die Zahlen. Lächelt einladend. Legt es auf sein Handtuch, steht auf und stürzt sich kopfüber in den Pool. Krault heftig hin und her. Große Show, heftiges Spritzen.
Ich laufe hastig hinunter und betrete den Poolbereich von der Hotelseite her. Sie hat nur Augen für seine Schwimmdarbietungen. Schnell lasse ich sein Handy in meiner Hosentasche verschwinden und trete vorsichtig hinter sie.
„Wolltest Du nicht auf die Piazza und bei „La Perla“ nach Schmuck schauen, meine Schöne?“
Ein erfahrener Caprifischer weiß, welchen Köder er auswerfen muss.
*
Was für ein Körper! Und diese Augen! Fast schwarz. Neapolitaner? Ah! Telefonnummer. 0039-33067891. Leicht zu merken. Mann, kann der schwimmen! Und wie dabei die Muskeln unter seiner Haut spielen!
„La Perla“? Oh! Die Spendierhosen an. Das muss die kluge Frau ausnutzen. First things first.
*
Nicht schlecht, die Korallenkette. Aber nun muss ich ihn loswerden. Damit ich telefonieren kann. Wie er wohl heißt?
„Macht es Dir etwas aus, wenn ich mich ein wenig hinlege? Du gehst ja gerne auch alleine am Strand spazieren. Und lass Dir Zeit.“
Schön, wie leicht er zu lenken ist. Ein wirklich angenehmer Begleiter.
Schon seit langer Zeit.
0039-33067891.
CIAO BELLO. MI CHIAMO CAMOMILLA.
Senden.
Endlich vibriert es. Eine SMS-Antwort von ihm. Seine Nummer.
Lesen.
NENN MICH DESIDERIO.
Er kann Deutsch. Das macht vieles einfacher.
MEINE ZUNGENSPITZE BERüHRT DEINE LIPPEN.
Mein Herz setzt einen Schlag aus, dann ein warmes Kribbeln im Bauch. Ich will ihn. Jetzt. Sofort. Er soll weitermachen.
UND DRINGT IN DEINEN MUND.
Ich bin schon offen für ihn, presse mich an ihn, meine Arme umschlingen seinen Hals.
BIST DU ALLEIN?
Meine Finger zittern, als ich die Antwort eintippe:
JA, AUF DEM ZIMMER:
Mein Gott, wohin soll das führen? Ich habe ja noch gar keine Ahnung, wer er ist, wie er ist. Aber ich kann jetzt nicht zurück, die Situation ist einfach zu reizvoll.
ZIEH DICH AUS, GANZ.
Ich zögere nur kurz. Dann lege ich Kleid und Unterwäsche ab und werfe mich nackt auf das breite Bett. Und warte. Auf ein weiteres Vibrieren, das mir sagen wird, wie es weitergehen soll. Ob er glaubt, dass ich so ohne weiteres gehorche?
ICH KüSSE DEINE BRUSTSPITZEN.
Eine heiße Welle durchflutet mich, und ich spüre, wie meine Brustwarzen hart werden und sich steil aufrichten. Ich seufze leise und beginne, meine Brüste zu streicheln, von unten nach oben, nur manchmal zart die Warzen berührend.
MEINE HAND AUF DEINEM BAUCH.
Ich stöhne laut auf, ergreife die Hand und führe sie weiter nach unten, dorthin, wo es schon feucht und weit offen ist. Aber ich will mehr. Das reicht mir nicht. Ich will ihn. Jetzt. Ganz.
KOMM ZU MIR. ZIMMER 203.
Meine Finger fliegen über die Tasten. Lange muss ich warten. Dann endlich vibriert die Antwort.
GUT. öFFNE DIE TüR. VERBINDE DIR DIE AUGEN. LEG DICH AUFS BETT. SPRICH NICHT.
Meine Fügsamkeit erregt mich noch heftiger. Ich tue alles und würde noch viel mehr tun. Ich bin ein völlig willenloses Bündel Erregung, kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Verbinde mir die Augen und lege mich auf das Bett, mit gespreizten Beinen und heftig atmend.
Da höre ich, wie die Türe geschlossen wird, der Schlüssel dreht sich zweimal. Ein Gewicht neben mir auf dem Bett, ein Seidentuch auf meinen Brüsten. Und ich schmiege mich hinein in dieses Streicheln, und unwillkürlich fange ich an zu schnurren wie eine Katze. Und das Seidentuch wandert nach unten, findet mich offen und bereit.
Einen atemlosen Augenblick muss ich warten. Dann spüre ich, wie er sich erregt an mich drängt und endlich ganz langsam und doch bestimmt zu mir kommt. Lust, Befreiung und ein unbezähmbares Glücksgefühl tragen mich weit fort von allem. Ich juble, umschließe ihn voll Wonne, und dann halte ich es nicht mehr aus. Ich will ihn sehen, und mit einer heftigen, ungeduldigen Bewegung reiße ich mir das Tuch von den Augen.
Und erstarre zu Eis.
Gefriere.
Lust und Glück gerinnen zu kaltem Hass.
Kein feuriger, dunkler Italiener ist es, mit dem ich schlafe.
Er ist es.
Dieser schlappe, weiche Sack, mit dem ich seit Jahren nichts mehr anfangen kann.
Dafür werde ich ihn töten.
Aber da trifft mich wie ein Schlag die Erkenntnis, dass sein Blick so ganz anders ist als sonst. Hart, unnachgiebig und böse funkeln die grauen Augen, der Blick ist stechend, hält mich gefangen, hypnotisiert mich. Und ein kalter Schauder erfasst mich, lässt mich zittern.
Und da legen sich starke Hände um meinen Hals, packen fest zu. Würgen mich. Grausam, unnachgiebig. Ich strample verzweifelt, aber ich habe seiner Kraft nichts entgegenzusetzen.
Und mitten in meinem hilflosen Entsetzen und meiner Todesangst spüre ich auf einmal, wie sich, völlig gegen meinen Willen, mein Unterkörper ihm entgegenwölbt.
Rhythmisch.
Verlangend.
Und, obwohl ich es ganz und gar nicht will, werde ich getrieben von einer Lust, die größer ist als ich und die nicht aus mir, sondern von einem weit entfernten, fremden Ort zu kommen scheint. Und dieses Gefühl ist so stark, dass es mein bewusstes Denken völlig ausschaltet. Es lässt mir keine Wahl, nimmt mich mit. In einen Strudel von Leidenschaft und unsäglicher Lust. Und wie aus großer Entfernung höre ich mich schreien.
Kleine, spitze Lustschreie.
Und dann versinkt alles um mich herum in einem Regenbogen von sprudelnden Farben.
*
Nur ganz langsam komme ich wieder zu mir.
Und ich sehe nichts als seine grauen Augen, ungläubig aufgerissen und getränkt mit einer Mischung aus Hass und Zärtlichkeit. Augen, die nun eine unwiderstehliche Attraktivität ausstrahlen. Augen, die mir vertraut sind.
Schon seit langer Zeit.

Veröffentlicht in:

Lob der Jadeflöte, Anthologie zum Menantes Preis 2010