Die Wesen des Puppenspielers

ein Mosaik
Detailexposé

Er war maßlos enttäuscht, als das kleine Schwesterchen auf der Welt war, denn er hatte geglaubt, nun endlich ein wirklich lebendiges Spielzeug zu bekommen. Stattdessen durfte man sie nicht anfassen, musste ständig still sein und wurde immer weniger beachtet, während die absolut lächerlich kindischen Leistungen des kleinen Mädchens in den Himmel gehoben wurden.
"Hast Du gesehen? Sie hat gelächelt! Sie hat "Dada" gesagt!"
Als ob er nicht viel ausdrucksvoller lächeln und viel deutlicher "Dada" sagen könnte!
Beleidigt zog er sich zurück - in seine eigene Welt, in der es solche Ungerechtigkeiten nicht gab. Und einen wirklichen Freund hatte er auch: Teddy, den er einst von seiner Großmutter geschenkt bekommen hatte mit den Worten, das sei ein treuer Gefährte. Mit ihm teilte er alles, was er besaß, und er war auch sein ständiger Begleiter, sowohl beim Säubern und Ordnen seiner Miniaturautos, als auch bei den fantastischen Reisen, die sie zusammen darin unternahmen.
Er besaß unter anderem ein rotes Jaguar E-Type Cabriolet mit genau 260 PS, das sich besonders gut dazu eignete, in der Rolle von James Bond 007 Gangster zu jagen und die Welt zu retten - natürlich stets mit Teddy auf dem Beifahrersitz. Da hätte so eine kleine Schwester nur gestört. Hätte sie vielleicht über seinen stolzen Fuhrpark lächeln sollen? Oder gar "Dada" sagen?
Nur leider blieb nach einiger Zeit seine Welt doch nicht unbehelligt, denn die Eltern beschlossen (wie immer ohne ihn nach seiner Meinung zu fragen), dass die kleine Schwester nun alt genug sei, um nicht mehr im elterlichen Schlafzimmer wohnen und nächtigen zu müssen. Sein bisher einzig ihm allein gehörendes Reich wurde aufgeteilt. Er büßte das Ausstellungsregal für seine Modellautos und die kunstvoll errichteten Straßenfluchten, den Rallyeparcours und das Gelände für die Jeeps ein. Stattdessen wurden ihm ein Bett für die Schwester und ein Schrank für ihre Sachen vor die Nase gesetzt.
Seine wertvollen Miniaturautos wurden lieblos in Schuhkartons gestopft und unter sein Bett geschoben. Nur Teddy durfte bei ihm bleiben, aber der musste das Bett mit ihm teilen. Teddy begann nun unaufgefordert, seine Meinung über die kleine Schwester zu verkünden, die für all die einschränkenden, ja freiheitsberaubenden Veränderungen verantwortlich zu machen sei. Es sei ihre Schuld, dass die fachmännisch arrangierte Ausstellungsfläche für die Autos und das gesamte Testgelände zerstört worden waren. Irgendwann müsse sie dafür bezahlen.

Einige Jahre vergingen.

Seine Miniaturautos waren unter dem Bett in den Schuhkartons vgeblieben, und er hatte sich zusammen mit Teddy in eine andere Welt zurückgezogen.
Die Schwester war allseits beliebt, denn sie hatte ein sonniges Wesen, war stets fröhlich und aufgeschlossen. Ihm jedoch ging ihr beständiges Geplapper gründlich auf die Nerven, er fand keinen Grund zum Fröhlichsein. Wenn sie ihn ansprach, schwieg er und drehte sich von ihr weg. Stille machte sich breit in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Die Eltern, die zunächst versucht hatten, seine Mauer zu durchbrechen, gaben mit der Zeit auf. Zu vorwurfsvoll konnte er dreinblicken, zu bedrückend war sein Schweigen. Und dann kam die Nacht, in der Teddy zum ersten Male laut sprach.

Nicht nur in seinem Kopf.
Nein, laut.
Durch seinen Mund.

Er erzählte von einem roten Jaguar E-Type Cabriolet mit genau 260 PS, in dem er über Landstraßen und Autobahnen brauste, um die Welt vor den Gangstern zu retten. Und die kleine Schwester saß schon bald auf dem Beifahrersitz, der Wind zauste ihre blonden Locken, und ihre himmelblauen Augen glühten vor Eifer.
Doch da! Wie konnte so etwas passieren? Das Auto stotterte und bockte, der Motor erstarb. Langsam rollte der rote Sportwagen aus und blieb am Straßenrand stehen.
"Klarer Fall!" sagte Teddy. "Tank leer."
Nun, da blieb nichts anderes übrig, James Bond persönlich musste aussteigen, den Ersatzkanister nehmen und zur nächsten Tankstelle laufen, um von dort Benzin zu holen.
Doch so einfach war das nicht. Geheimagenten haben zwar vieles - versteckte Messer in Schuhen, Laserstrahluhren, explodierende Kugelschreiber oder sich selbst vernichtende Aktentaschen.

Aber Bargeld?

Oder hatte schon mal irgendjemand 007 gesehen, wie er einen ordinären Geldbeutel aus der Tasche zog um etwas zu bezahlen? Es sah also so aus, als würde sich die Welt dieses Mal selbst retten müssen.
Doch freudig sprang die kleine Schwester auf, froh, auch etwas beitragen zu können. Sie nahm ihre Spardose aus dem Handschuhfach und gab alles, Scheine wie Münzen, dem berühmten Geheimagenten, damit er den Ersatzkanister füllen konnte.
Mit ernster Miene und großer Selbstverständlichkeit nahm er das Geld entgegen - und bald brausten sie wieder über Landstraßen und Autobahnen und retteten die Welt vor den Gangstern. Wieder zauste der Wind ihre blonden Locken, wieder glühten ihre himmelblauen
Augen vor Eifer.
Noch oft sprach Teddy in den folgenden Monaten und Jahren durch seinen Mund, noch oft erzählte er. Zunächst nur von dem roten Cabriolet, später waren es auch Jeeps im Dschungel oder Trucks auf Highways. Aber immer traten Probleme auf, die nur durch die finanzielle Hilfe der Schwester gelöst werden konnten.
Und in ihrer Begeisterung und in ihrer Freude darüber, dass der Bruder ihr Geschichten erzählte, denn sie wusste nicht, dass es Teddy war, der sprach, die eine gemeinsame Welt für sie erschufen, in der sie wunderbare Abenteuer mit ihm erlebte, achtete sie gar nicht darauf, dass ihre Spardose eigentlich ständig leer war, obwohl sie von Eltern und Großeltern stets reichlich beschenkt wurde. Sie dachte sich auch nichts dabei, als ihr Bruder seine Miniaturautos aus den Schuhschachteln unter dem Bett wieder hervorholte, schließlich erlebte sie in ihnen mitreißende Verfolgungsjagden. Und als er schließlich die Straßenfluchten, den Rallyeparcours und das Gelände für die Jeeps wieder zwischen ihren Betten errichtete, so dass man kaum noch durchkam, hielt sie auch das für richtig, schenkte es doch ihren Reisen einen Lebensraum.
Und selbst als nach und nach einige nagelneue Miniaturautos auftauchten, vor allem nach Nächten, in denen ein Auto besonders viel Benzin verbraucht hatte, brachte sie das nicht mit dem Schwinden ihres Ersparten in Verbindung.

Der Bruder blühte richtig auf.
Er sprach sogar wieder mit den Eltern.
Manchmal.
Wenn er sich für Geldgeschenke bedankte.
Teddy hatte ihm diesen Rat gegeben.

Dann kam die Nacht, in der sie mit einem Grand Cherokee Jeep mit Achtzylindermaschine auf der Jagd nach den bösen Gangstern einen Gebirgspass überquerten. Plötzlich geriet das Fahrzeug in einer scharfen Kurve auf tiefem Schotter ins Driften, schleuderte gegen einen großen, spitzen Stein, und dann platzte ein Reifen. Nur mit viel Mühe brachte ihr Bruder das schlingernde Fahrzeug zum Stehen. Beinahe wären sie in einen Abgrund gestürzt - 1000 Meter tief oder mehr.
"Klarer Fall!" sagte Teddy. "Müssen neuen Reifen besorgen."

Und James Bond hatte wieder nichts Bares.

Aber auch die kleine Schwester war völlig verzweifelt, denn in ihrer Spardose herrschte gähnende Leere. Zu oft war sie in letzter Zeit für Tankstellenbesuche geplündert worden. Suchend sah sie sich um, öffnete das Handschuhfach und kramte darin. Mit einem Freudenschrei
erblickte sie ihr Kommunionkreuz.

Das war aus Gold.
Alt und wertvoll.
Hatte die Großmutter gesagt.

Schnell reichte sie es dem Geheimagenten, der gerade kopfschüttelnd vor dem geplatzten Reifen stand. Und es erfüllte sie mit stillem Glück, als sie nun erfuhr, dass in dieser Gegend Indianerstämme lebten, die einem Tauschhandel sicherlich nicht abgeneigt wären, und dass damit die Beschaffung eines Ersatzreifens wohl möglich sei.
Und bald brausten sie in ihrem Grand Cherokee mit geöffneten Fenstern den Gebirgspass hinab, um die Welt zu retten, der Wind zauste ihre blonden Locken und ihre himmelblauen Augen glühten vor Eifer.
Am nächsten Tag wurde sein Fuhrpark um ein detailgetreues Feuerwehrauto mit Drehleiter und Anhänger vergrößert. Nun brauchen Eltern meistens lange, bis sie erkennen, was mit ihren Kindern vorgeht. Doch es war nun nicht mehr zu übersehen, zumal man die leere Spardose entdeckt hatte. Aus irgendeinem unverständlichen Grund gab das kleine Mädchen all ihr Geld dem Bruder, damit dieser immer schönere und teurere Miniaturautos kaufen konnte.
Nun war auch noch ihr goldenes Kommunionkreuz verschwunden.

Alt und wertvoll.
Von der Großmutter.
Es musste etwas geschehen.

Damit er am eigenen Leibe spüre, wie sehr es schmerzt, etwas Geliebtes zu verlieren, hatte der Vater ihm gedroht, er würde ihm Teddy wegnehmen. Doch als der Junge mit fester Stimme darlegte, dass er sich in diesem Falle gezwungen sähe, sich umzubringen, nahm er seine Aussage erschrocken und verwirrt wieder zurück.
Also musste eine andere Lösung her.
Und die war auch bald gefunden.
Vater verlegte sein Arbeitszimmer in den Keller; die Feuchtigkeit würde den Akten und Konstruktionszeichnungen schon nichts ausmachen. So bekam die kleine Schwester ein eigenes Zimmer.

Und er hatte wieder Platz.

Aber Teddy erzählte nun keine Geschichten mehr, ohne Publikum wollte er das offenbar nicht. Sein Fuhrpark wuchs trotzdem weiter und mit ihm der Stolz darauf. Der Schwester und den Eltern gegenüber verstummte er erneut.

Es gab auch nichts mehr zu sagen.

Ein Leben verging.

Schnell und mühelos absolvierte er Schule, Abitur und schließlich sein Studium der Betriebswirtschaft, und auch seine berufliche Karriere war unbehindert von emotionalen Beziehungen, denn sein einziger Vertrauter, Teddy, hatte gesagt: "Klarer Fall! Musst ein Autohaus aufbauen!"
Geübt durch die kindlichen Spiele mit der Schwesterkannte er seine Möglichkeiten wie kein anderer - und er nutzte sie. Niemand verstand es so wie er, den Kunden nicht nur ein Auto zu verkaufen, sondern ihnen gleichzeitig eine neue, abenteuerliche Identität zu schenken, sie zu dem Fahrer werden zu lassen, der zu ihrem Traumauto passte. Denn Teddy half ihm, den Menschen Geschichten zu schenken, die sich fast so anhörten, als könnten sie Wirklichkeit sein.
Was er sich gut bezahlen ließ.
Bald schon war sein Fuhrpark enorm. Er verfügte über die nobelsten Marken, selbstverständlich auch Jaguar, und im Anschluss an seine Ausstellungshallen hatte er einen Rallyeparcours und ein Gelände für die Jeeps bauen lassen, das auffallend dem ähnelte, das einst auf dem Boden seines Kinderzimmers die Grundlage für die Reisen mit der Schwester gebildet hatte.

Er genoss den Erfolg.
Die Macht, die er über die Gefühle der Menschen hatte.
Die er zielstrebig in Profit für sich verwandelte.
Um sie noch weiter zu vergrößern.
Stolz erfüllte ihn.

Doch dann, spät, sehr spät fing sein Blick an sich zu verdunkeln, und seine Wahrnehmung wurde trübe. Den Namen der Krankheit, den die ärzte ihm nannten, konnte er sich nicht merken. Er vergaß die Geschichten, die er den Kunden erzählen sollte - oder er verwechselte sie gar. Schnell verlor er alles, was er erreicht hatte: Macht, Einfluss, Ansehen - zuletzt verlor er sich selbst.

Doch er merkte kaum etwas davon.
Denn die Pflege in der Anstalt war vorzüglich.

Und da war auch auf einmal wieder seine kleine Schwester. Er erkannte sie manchmal. Und sie kümmerte sich rührend um ihn. Jeden Abend kam sie zu Besuch.
Und oft hatte sie Miniaturautos dabei, die ihm vage bekannt vorkamen. Da war vor allem ein rotes Jaguar E-Type Cabriolet mit genau 260 PS, das er glaubte schon einmal gesehen zu haben.
Und dann kam die Nacht, in der seine kleine Schwester zum ersten Mal anfing zu erzählen. Sie war Geheimagentin, und gemeinsam jagten sie in dem roten Sportwagen über Landstraßen und Autobahnen, um die Welt vor den gefährlichen Gangstern zu retten, und als plötzlich das Benzin ausging, war er nur allzu gerne bereit, ihr all sein Geld aus dem Portemonnaie zu geben, damit sie an der nächsten Tankstelle ... denn Geheimagentinnen haben ja bekanntlich nie Bares... Und mit ernster Miene und großer Selbstverständlichkeit nahm sie das Geld entgegen.
So ging es viele Wochen. Die anfangs etwas schäbige und eher bürgerliche Kleidung der Schwester wurde eleganter und teurer. Er nahm an, sie kaufte in hochklassigen Boutiquen. Das war gut so, denn Agentinnen müssen ja auch etwas repräsentieren. Ihre gemeinsamen Abenteuer wurden wilder und gefährlicher.
Als sie eines Nachts in einem Grand Cherokee Achtzylinder einen Gebirgspass überquerten, geriet das Fahrzeug in einer scharfen Kurve auf tiefem Schotter plötzlich ins Driften, schleuderte gegen einen großen, spitzen Stein, und dann platzte ein Reifen, und mit viel Mühe brachte die Schwester das schlingernde Fahrzeug zum Stehen.
"Klarer Fall!" meinte sie. "Müssen neuen Reifen besorgen."
Und als er nun verzweifelt in die gähnende Leere seines Geldbeutels schaute, der in letzter Zeit zu oft geplündert worden war, kam ihm die rettende Idee. Im Handschuhfach des Jeeps hatte er doch diese Vollmacht, mit der er über sein gesamtes Vermögen an Pfandbriefen, Aktien, Anleihen und Mietshäusern verfügen konnte.
Schnell holte er sie hervor, stellte sie auf ihren Namen aus, unterschrieb sie. Und es erfüllte ihn mit stillem Glück, als er nun erfuhr, dass in dieser Gegend Indianerstämme lebten, die einem Tauschhandel sicherlich nicht abgeneigt wären, und dass damit die Beschaffung eines Ersatzreifens wohl möglich sei.
Und als sie bald darauf in ihrem Grand Cherokee mit geöffneten Fenstern den Gebirgspass hinabbrausten, um die Welt vor den gefährlichen Gangstern zu retten und der Wind ihre blonden Locken zauste und ihre himmelblauen Augen vor Eifer glöhten, da sah er, dass sie um den Hals wieder ihr Kommunionkreuz trug.

Das war aus Gold.
Alt und wertvoll.
Hatte die Großmutter gesagt.

Teddy saß auf dem Rücksitz
Trug eine Sonnenbrille.
War angeschnallt.
Und lächelte.